Lwiw, die heute westukrainische Stadt, blickt auf eine heterogene Geschichte zurück, die sie Teil ganz unterschiedlicher Nationen hat werden lassen. Diese multikulturelle Vergangenheit prägt die Stadt noch immer, nicht nur ihre Architektur, auch ihre Menschen. Doch da ist auch die heutige Ukraine, eine junge Generation, die längst Teil des modernen Europa geworden ist, und sich doch ganz anders fühlt.

Junge, deutschsprachige Theaterschaffende haben sich auf den Weg gemacht, die ihnen unbekannte Stadt, das unbekannte Land zu betreten und eine erste Begegnung zu wagen. Es gab keine konkrete Aufgabenstellung, aber die Möglichkeit, Projektideen für die Zukunft zu entwickeln.

Die Stipendiaten:

Natalie Driemeyer, geboren 1980, studierte Literatur-, Theater- und Medienwissenschaft sowie Soziologie in Osnabrück, Berlin und Paris. Während des Studiums arbeitete sie unter anderem an den Städtischen Bühnen Osnabrück, bei Drama Köln und an der Schaubühne Berlin. Nach Abschluss des Studiums war sie als Produktionsleiterin beim Internationalen Theaterzentrum AKT-ZENT in Berlin und Montenegro tätig, für den Theaterbereich sowie die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Kulturpark Neukladow (Berlin) verantwortlich, sie arbeitete bei dem ITI-Theaterfestival Theater der Welt in Halle und am Ballhaus Ost in Berlin. Zurzeit leitet Natalie Driemeyer das Forum Diskurs Dramaturgie der Dramaturgischen Gesellschaft und arbeitet freiberuflich als Dramaturgin.
Nora Schlocker, Absolventin des Regiestudienganges der HfS „Ernst Busch“ Berlin, wurde 1983 in Rum (Österreich) geboren. Nach dem Abitur studierte sie zunächst an der Schauspielschule Schauspielforum Tirol und arbeitet anschließend als Regieassistentin am Luzerner Thater und am Schauspiel Frankfurt. Sie inszenierte u.a. 2005 „Hero/She/Moi“ nach Maguerite Duras im 3.Stock der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, „Gier“ von Sarah Kane am Landestheater Linz, „Der Bus“ von Lukas Bärfuss am Staatstheater Karlsruhe, „Herr Tod lädt nicht ein aber wir kommen trotzdem“, „Plus Null Komma Fünf Windstill“ (beides 2007) am Gorki Theater Berlin und „Liliom“ 2008 am Nationaltheater Weimar. Dort ist sie ab der Spielzeit 08/09 Haus-Regisseurin.
Nora Mansmann, 1980 geboren, hat Geschichte, Musikwissenschaft und Germanistik in Göttingen und Berlin studiert und in dieser Zeit Hospitanzen und Assistenzen u.a. bei Jürgen Gosch und Armin Petras absolviert. Seit 2004 eigene Theaterarbeiten, zuletzt inszenierte sie ihr erstes abendfüllendes Theaterstück TERRORMUM für den \“Club der Utopisten\“ am Theater Bonn, sowie im September 2007 mit „please allow me“ ebenfalls einen eigenen Text für die Spielzeiteröffnung des Düsseldorfer Schauspielhauses. Für Drama Köln brachte sie 2007 „Kitty White kommt“ von Alexandra Müller und 2006 „Es gibt Gewalten hier auf Erden, hab die Schweden fliegen sehn“ von Carsten Brandau auf die Bühne. Als Teil des Regiekollektivs SOMA schuf sie 2006 die multimediale Theatercollage „Käferkind“ am HAU in Berlin. Seit 2005 wird Nora Mansmann als Theaterautorin vom Verlag der Autoren vertreten.
Nico Dietrich, geboren 1979, seit 1997 Arbeit mit Jugendtheatergruppen, 1999-2001 Regieassistenzen in Berlin und Brandenburg, 2001 Gewinner des bundesweiten Literaturwettbewerbs „Komm dichter“, ab 2001 Studium Schauspielregie an der Schauspielhochschule „Ernst Busch“ Berlin, Regiearbeiten 2004: „Blut im Schuh“ (Steffi Hensel) u.a. in den Sophiensaelen Berlin, DNT Weimar, „Analyse der Phobie eines 5-jährigen Knaben“ nach S. Freud, Auftragsarbeit für die Vereinigung deutscher Kinder- und Jugendpsychoanalytiker (Logenhaus Berlin), Einladungen nach Kassel, Frankfurt/M, „Orestie“ im bat-Studiotheater Berlin, „Arbeit, Angst, Angelika“ (Steffi Hensel), UA am Meininger Theater im Rahmen des Nachwuchsfestivals „Junge Hunde“; 2006-07 Regisseur, Projektleiter einer Spielstätte und Assistent am DNT Weimar, derzeit künstlerischer Leiter der Kosmonautenschule Weimar, Gastregisseur in Berlin und Graz.

Nora Schlocker:

Bevor ich in die Ukraine gereist bin, las ich einen schönen Satz von Jurko Prochasko. Er beschrieb, dass Lemberg nach dem Krieg wie eine Muschel übrig geblieben war, die ohne das Tier darin, ohne ihren Bewohner, übrig geblieben war. Also hab ich mich auf dieser Reise auf die Suche nach dem neuen Bewohner in der Muschel gemacht. Wollte sehen, wie das neue Tier es sich so eingerichtet hat, wie es lebt. Und ich kann berichten, die Muschel ist ein Schmuckkästchen. Im Frühjahr fallen wahrscheinlich mit den Eiszapfen auch ein paar Jugendstilornamente auf die Straße und ich muss gestehen, ein wenig tat mir das Herz weh beim Anblick des doch auch sehr präsenten Verfalls der Muschelhülle. Doch drin war viel „duscha“, also „Seele“ (wie ich mir hab sagen lassen, ist dieses wichtigste Dostojewskij–Wort in beiden Sprachen, im Russischen und Ukrainischen, das selbe). Diese „Seele“ hat mich sentimental gemacht. Die Muschel scheint ein windstiller Ort zu sein, abgeschirmt und geschützt von einem gewissen Außen, und somit hat sie einiges bewahrt, nach dem ich mich oft sehne. Was das genau ist, kann ich schwer beschreiben. „Duscha“ hat mich nachdenken gemacht, über Identität und Geborgensein, ganz abseits von Grenzen und Ländern und Benennungen. Ein Sehnsuchtsgefühl nach Heimat hat mich angesteckt. Und so war meine Reise in die Muschel auch eine Spurensuche in meinem eigenen Kosmos, ein Versuch einer Selbstrekonstruktion. Am meisten bleibt mir nach dieser Reise ein Satz im Kopf hängen: Auf mein andauerndes Fragen nach der Identiät, nach der Definierung der Traditionen, auf deren Wert in Gesprächen oft und vehement verwiesen wurde, antwortete man mir:“An dem Punkt, an dem man seine Identität findet, ist man tot.“ Dieses „sich in Bewegung befinden“, vor allem in den Köpfen der Künstler die wir getroffen haben, hat mich persönlich am meisten beeindruckt. In der Muschel hatte ich immer das Gefühl, vor uns – und mit uns meine ich die Menschen im Allgemeinen – liegt noch ein großes Stück Weg. Sobald ich aus der Muschel herausgekrochen bin, nach Deutschland zurückgekehrt bin und die erste Aklimatisierung stattgefunden hat, bemerke ich nun diese altbekannte Behäbigkeit, die meine Gedankengänge heimlich rücklings wieder würgt.

Natalie Driemeyer:

Fremde machen sich häufig falsche Vorstellungen von Ländern, deren Vertreter sie nur bei sich zu Gesicht bekommen haben. (Tucholsky)

Eine Grundlage meiner Erwartungen an diese Reise war die Suche nach dem Fremden. Meine darauf folgende Erkenntnis war, dass „das Fremde“ auch in uns als „fremd“ erscheinenden Ländern zumeist nur durch eine starke Selektion der Eindrücke – welche Clichées hervorrufen – existieren kann. Man erstellt Photographien von Orten und Menschen die einem fremd, andersartig vorkommen; der Blick für das Bekannte wird zumeist verschlossen, um eine Enttäuschung auszuschließen.

Weiterführende Auseinandersetzungen, in der Verbindung des Fremden mit dem Eigenen, können besonders in der Theaterarbeit entstehen. Das gleiche Interesse – Theater – basiert auf unterschiedlichen ästhetischen Lehren. In der gemeinsamen Arbeit ukrainischer und deutschsprachiger Theaterleute besteht die Chance, die jeweils eigene Definition von Theater zu erweitern und zu ergänzen.
Jenes, am Anfang der Reise gesuchte Fremde, kann sich zu einem erlebten und gelebten Gemeinsamen entwickeln.